Okko Nr. 40
„Spurschrift”
„Oo-ko, dein Schulpaket von Oma!“, rief Mutti, und alle stürzten sich drauf. Mutti strich das schon arg knittrige braune Packpapier glatt und wickelte das Paketband sorgfältig auf.
„Och, is ja gar kein Tunüster!“ Statt eines richtigen Schultornisters, in dem alles beim Hüpfen so schön klapperte, sollte Okko sich Opas Mappe aus abgewetztem echtem Kunstleder unter den Arm klemmen. Die nagelneue Schiefertafel samt Griffelkasten ging gerade so hinein. Oma hatte riesengroße Zeichen daraufgemalt: OMA.
„Was heißt das?“
„Oma!“, las Mutti.
Zur Einschulung am nächsten Morgen nahm Okko die labberige Mappe nicht mit, sondern nur seine Schultüte: Aus beklebter und bemalter Kartonpappe, allerlei Papier, Bommeln und Schleifen hatte Mutti einen kunterbunten Riesenzipfel gebastelt und mit Plätzchen, Bonbons, sogar Nappo, und einer Apfelsine gefüllt.
Drinnen im düsteren Schulgebäude roch es nach Bohnerwachs. Die Eltern durften mit ihren I-Männchen schon gleich die Treppe rauf ins größte Klassenzimmer. Vati und Mutti zwängten sich am Lehrer und Rektor vorn zwischen Tafel und Lehrertisch vorbei durch die Bänke zu den anderen Eltern ganz hinten im Klassenraum. In drei Blöcken reihten sich jeweils acht Schreibpulte ordentlich hintereinander. An jedem Pult war eine Zweierbank befestigt. Und auf eine davon quetschte sich Okko mit seiner Schultüte neben einen Jungen, den er vom Kindergarten kannte. Auf dem Pult lag für jedes Kind eine ganze Tafel Schokolade. Ungläubig starrte Okko die an, schaute fragend zu den Eltern nach hinten, die ihm bedeuteten, dass das in der Tat ganz und gar seine sei und er sie am besten vorerst in seiner Schultüte verstaute. Das war ein Geknispere, denn auf die Idee waren mindestens 40 Kinder gekommen. Mit bloßem Stöckchenticken auf sein Pult setzte der Lehrer dem ungebührlichen Lärm ein Ende. Jetzt kam der Ernst des Lebens: Jedes Kind wurde nach vorn gerufen, damit der Lehrer irgendetwas in sein Buch schreiben konnte. Er rief: „Otfried!“ Niemand rührte sich. Der Lehrer wiederholte sehr laut: „Otfried!“ und fügte dann Vatis und Muttis Nachnamen hinzu. Keine Reaktion, bis Mutti von hinten auf Okko zuschoss und ihn anstubste.
„Geh schon, Okko, das bist du.“ Okko wand sich widerstrebend aus seiner Bank, aber so mir nichts dir nichts umtaufen ließ er sich denn doch nicht. Vorn belehrte er den Lehrer:
„Nich Ockfiet: Okko!“
Erst am zweiten Schultag sollte es mit dem richtigen Lernen losgehen: Rechnen, Schreiben, Lesen, aber Okko wollte partout nicht mehr in die Schule.
„Ich kann da nicht hin, ich kann ja gar nicht lesen!“
„Aber Junge, das lernst du doch da. Dazu geht man doch in die Schule.“ Ohne Frühstück, noch ab und zu schniefend, ließ sich Okko von Mutti in die Schule schleifen. In der Pause gab es Milch auf dem Schulhof, für jedes Kind irgendeinen mitgebrachten Behälter voll. Anschließend stand nur noch Rechnen auf dem Plan. Das Gestell mit den Kugeln, die der Lehrer vorn herumschob, brauchte Okko gar nicht; er hatte doch zehn Finger. Dann war schon Schluss für die Kleinen.
Viele stellten sich vor dem Heimweg in der Essensausgabe an. Aus einem Riesenkessel schöpfte eine dicke Frau dicke Suppe in allerlei Blechgefäße, die ihr vor den Bauch gehalten wurden. Manche Kinder kriegten für die anderen Familienmitglieder zu Hause gleich mehrere Töpfe voll. Die stapelten sie in ein Tragegestell übereinander. Henkelmann nannten sie das. Der Nachbarjunge streckte der Suppenfrau sogar eine Milchkanne hin, die sie anstandslos füllte. Okko hatte weder Henkelmann noch Milchkanne und hüpfte ohne Schulspeise zum Mittagessen nach Hause.
Die Schule wäre ja in Ordnung gewesen, wenn es dieses Gekringel nicht gegeben hätte, und das JEDEN TAG. Auf dem Stundenplan stand „Schreiben“, wie Mutti ihm vorgelesen hatte, aber was sollte das eigentlich sein? Jedes Kind erhielt ein Blatt mit lauter komischen Kringeln drauf. Mit einem stumpfen Holzgriffel sollten sie dieses Kringel alle zusammen im gleichen Tempo nachfahren und dabei im Chor lang-sam be-schwö-re-risch irgendetwas mit-spre-chen. Dann übertrugen sie diese Kringel auch noch auf liniertes Papier, jetzt mit richtigem Bleistift. Streng wurde Okko angehalten, seinen Kringeln eine gewisse Ordnung zu geben. Sie mussten sich mal genau auf, mal über, mal unter einer der viel zu vielen Linien kringeln. Nach einer Weile hatte es sich bei Okko ausgekringelt, aber gründlich. Missmutig zupfte er den durch die Zweierreihen stolzierenden stets meckernden Lehrer am Lehrerärmel und sprach:
„Du-hu, ich will nich mehr kringeln.“
„Das ist kein Kringeln, sondern Spurschrift.“
Okko zupfte erneut:
„Du-hu, ich will auch nich mehr Spurschrift.“
„Ich heiße nicht Duhu, sondern Herrn Winkel, FREUND-CHEN. Und wann hier Schluss ist, bestimme ICH, FREUND-CHEN.“
Das klang nicht eben freundlich und wurde geradezu bedrohlich, als der Lehrer die letzten drei Silben auch noch mit seinem Zeigestock auf-tick-te. Der Stock konnte nämlich nicht nur ticken: Delinquenten wurde damit vor den Augen der ganzen Klasse gnadenlos der Hintern versohlt. Das machte bei sehr schwerwiegenden Vergehen der Rektor höchstpersönlich. Aber nur bei Jungen. Auch Kopfnüsse - Schläge mit den pädagogischen Fingerknöcheln gegen den unbotmäßigen Quer-, Trotz- auf jeden Fall aber Kinder-kopf - waren männliches Privileg. Und beinahe täglich kriegte irgendein Sünder Griffeldeckelhiebe: Aufstehen, Holzdeckel des Griffelkastens runterschieben, dem Lehrer das Marterwerkzeug anreichen, Hände vor, Handflächen nach oben, und runter sauste der Deckel, mit voller Wucht in die Handfläche. Das gab einen furchtbar ziehenden, lange anhaltenden Schmerz. Noch schlimmer war’s, wenn die Hand vor Schreck wegzuckte und sich schloss. Dann knallte der Deckel eben auf die Knöchel, einmal, zweimal. Eigene Schuld! Das stach, brannte, biss und bohrte ewig, auch wenn man die gequälte Hand beim Hinsetzen zur Linderung halb unter die Beine schob.
Statt all dieser Höllenqualen erging für Okko das Urteil: Nachsitzen, eine 100% geschlechtsneutrale Strafe. Denn hin und wieder wurde auch mal ein Mädchen zum Nachsitzen verdonnert, obwohl Faulheit, Frechheit, Frevel und Fehltritte jeder Art doch nachweislich den Jungen angeboren waren. Unter der strengen Aufsicht eines Lehrers mussten sämtliche Sträflinge aller Klassen ohne den geringsten Muckser 50- oder gar 100-fach genau das ausführen, was sie zuvor im Unterricht nicht gekonnt oder nicht gewollt hatten. Okko musste also kringeln.
„Wo warst du?“ Muttis Frage klang eher nach einem Vorwurf als nach echter Wissbegierde.
„Nachsitzen.“
„Warum?“
„Wegen kringeln.“
„Wegen WAS?“
„Kringeln. Spurschrift.“
„Zeig mal!“
Mutti schnappte sich die Hieroglyphen ihres Sprösslings und drehte das Spurschriftpapier von links nach schräg und um und um.
„Was soll DAS denn sein? Das kann doch kein Mensch lesen.“
„Nee“, bestätigte Okko bekümmert.
„Aber du hast doch das Wort OMA schon ein klein bisschen gelesen. Das kannst du doch richtig lernen! Tu das Spurschriftzeugs mal weg hier und hol lieber die olle Schiefertafel von Oma!“
Da standen die Überreste von Omas OMA noch drauf. In völlig ungesunder Körperhaltung („davon kriegt man einen Buckel“) beugte sich Okko über den Küchentisch, die Nase fast auf der Tafel. Mit schneeweiß durchgebeugten Fingern drückte er so auf den Griffel, dass der brach. Sofort holte er sich einen neuen, fuhr quietschend das Wort OMA nach, wobei Mutti und er zusammen laut mitsprachen: Mit rundem Mund erst das O, mit fest aufeinandergepressten Lippen das M, ein mit Karacho rausgeknalltes A, und dann in einem Guss:
„Ooo-Maa“ – Pause. Okko beäugte sein Gekritzel, fuhr es laut mitsprechend mit dem Finger nach, sprang plötzlich elektrisiert auf und rief: „Das heißt Oma!“. Begeistert malte er OMA nach, spürte OMA mühelos in jedem Text auf, den Mutti ihm vor die Nase hielt, und schrieb viele OMAs eigenhändig auf seine Schiefertafel. Wie vom Donner gerührt wischte er auf einmal all seine OMAs wieder weg und begann in fieberhaftem Erkenntnisdrang auf die frische Tafel zu krackeln: M mit fest aufeinandergepressten Lippen, dann ein mit Karacho rausgeknalltes A, dann wieder feste Lippen fürs M und wieder ein Karacho- A: MAMA.
„Mama!“, schrie er. „Das heißt Mama! Ich kann lesen, ich kann lesen!“
„Und schreiben“, fügte sie hinzu.
Okko Nr. 39
„Höhenflug“
„Habt ihr auch wirklich alles?“ Ja doch, die Marschverpflegung war längst in Vatis verschlissenen Soldatenrucksack gestopft: drei hartgekochte Eier in Zeitungspapier eingewickelt, Leberwurststullen satt, und sorgfältig aufrecht stehend - die Gummiverschlüsse hielten nicht so ganz dicht - zwei Flaschen hmm! Brombeersaft. Vati hatte sogar ein paar Münzen, Klötergeld, ins Extrafach gelegt. Jacken waren nicht nötig. Mutti stülpte zwar noch die unvermeidlichen Strickpudelmützen auf die Köpfe ihre Sprösslinge, aber dann war alles startbereit. Eitel Sonnenschein, wenn sich nur das ältere Nachbarmädchen nicht als Anführer für den großen Ostlandsausflug aufgespielt hätte. Als ob Klaas und Okko noch ein Kindermädchen nötig hätten! Zu dritt stiefelten sie los Richtung Hindenburgstraße, Klaas hopste gepäcklos mal vor mal hinter Okko, den die Bürde des Rucksacks von jeweden Hüpfattacken abhielt, und das fast erwachsene Nachbarmädchen marschierte gesittet vorweg. War die denn von allen guten Geistern verlassen? Wollte die tatsächlich am helllichten Tag an der Kaserne vorbei laufen? Das wimmelte doch nur so von Flüchtlingskindern, die jeden Strandstraßenjungen verprügeln würden. Wohl nicht ohne Grund: die Bande der Strandstraßenjungen war auch nicht zimperlich, wenn sich feindliche Objekte aus der Kaserne näherten.
„Nee, nich durch die Kaserne, die hauen!“ Klaas zerrte das sture Mädchen am Ärmel von dem bedrohlichen Terrain weg, und Okko half wortlos mit Schubsen nach. Davon ließ sie sich schließlich überzeugen, so dass die Dreiertruppe den Schlenker über den Barbaraweg machte. Gleich auf ihrer ersten Rast vor der Bunkerruine Coronel futterten die Wanderer fast den ganzen Proviant auf. So wurde der Rucksack leicht genug, dass Okko den rumpeligen Weg über Stock und Stein bis zum Flugplatz, wo die zweite Rast geplant war, mühelos schaffen konnte. Klaas zuckelte tapfer hinterher.
„Mensch, der Doppeldecker!“, schrie Okko, schmiss seinen Rucksack auf den Sand und rannte auf das riesige Flugzeug zu. Schon oft hatten sie es am Himmel gesehen, aber kein Mensch konnte ahnen, dass das Ding, wenn es leibhaftig auf Erden vor einem stand, solche Ausmaße hatte: zwei enorme Tragflächen stapelten sich übereinander. Dazwischen quetschte sich der nach hinten weit ausladende Rumpf. Noch stand das Ungetüm auf seinen drei Rädern und wartete auf seinen nächsten Rundflug. Niemand hielt die Kinder auf, als sie im großen Kreis um das gigantische Gefährt rumliefen. Doch dann schrie ihnen der Pilot vorn aus dem Rumpf etwas zu. War wohl Ausländisch. Wer versteht denn schon Ausländisch? Wollte er sie wegjagen? Nee, er winkte sie ran. Wie gut, dass sie das Sprachgenie von Nachbarmädchen bei sich hatten.
„Dat is Engels, viellicht is heij `n Engelsman“, erklärte sie folgerichtig und ging näher auf das Flugzeug zu, Okko vorsichtig in ihrem Schlepptau. War das wiederholte „Ju wonne flai?“ des Piloten eine Einladung? Seine Gesten: die Kinder noch näher ranwinken, auf die Tür weisen, zwei Finger hochhalten, wie um zwei freie Plätze anzuzeigen, konnte man durchaus so verstehen.
Das Sprachgenie fragte nach:
„Künnen twee mee?“
„Jäs, ja! Get on. Zwai mitfliegen. Harri ap!“ Okko schaute das Mädchen ungläubig an. Die machte keine Anstalten, selbst in den Riesenrumpf zu krabbeln, ermunterte Okko aber:
„Man tau, as heij dat seggt!“ Resolut schnappte sie sich Klaas und schob ihn durch die Flugzeugtür. Okko kroch gehorsam nach. Sie selbst blieb bescheiden - oder auch feige - zurück. Drinnen im Flugzeugbauch wurden die beiden Brüder von ungeduldig wartenden Passagieren an einen Fensterplatz geschoben. Und sofort ging’s los. Mit Höllenlärm rollte das Gefährt hoppelig an, dann drehte es und reckte seine Nase in die Höhe. Der vordere Rumpfteil, die Tragflächen, hoben ab, stellten sich schräg in die Luft, die Räder verließen den Boden, das Ungetüm stieg schwankend in die Luft. Es flog in gehörigem Abstand an dem Nachbarmädchen vorbei. Sie folgte dem Aufstieg mit den Augen, während ihr gleichzeitig die Kinnladen runtersackten. Mit weit offenem Mund sah sie das Flugzeug emporsteigen und dabei kleiner werden. Das stimmte aber gar nicht. Okko drinnen stellte fest, dass der Doppeldecker auch hoch oben in der Luft gleich groß blieb; es war wundersamerweise das Mädchen, das kleiner wurde. Selbst wenn er seine Nase platt ans Fenster drückte, konnte er es bald nicht mehr ausmachen, wohl aber die Fläche des Flugplatzes und die dunkelgrüne Waterdelle. Dann kamen die Dünenkette und der weite Strand. Sollten die weißen Striche dort auf dem Wasser etwa die Brandungswellen sein? Höher stieg der Doppeldecker, unter sich Wasser nichts als Wasser. Doch weit vorn kam ein langer grünlich-gelber Streifen zum Vorschein.
„Juist!“ riefen Flugpassagiere, „wir fliegen über Juist!“ Okko musste lachen: Das war doch nie und nimmer Juist! Juist war schließlich eine richtige Insel, immerhin die Nachbarinsel Borkums, und nicht einfach so ein Strich im Wasser! Das Flugzeug machte einen großen Bogen, und nun zeichnete sich etwas viel Größeres, Rundliches im Wasser ab.
„Borkum!“ erklärte der mitreisende Witzbold. Jetzt kam Leben in den platt ans Fenster geklatschten Klaas:
„Wo is Borkum, wo is Borkum?“
„Junge, da unten, du kuckst doch genau drauf. Kuck, wie ‘ne riesige Bohne sieht das aus. Das ist Borkum.“ Klaas blieb bei seinem: „Wo is Borkum?“, aber Okko dämmerte es: Das mit der Bohne, das hatte was. Borkum sah in Westermanns Weltatlas tatsächlich aus wie eine Bohne, und da stand ja dick und breit drüber: „Borkum“. Der Herr Westermann sollte aber mal in einem Doppeldecker über die Inseln fliegen, um seine Atlaskarten erkennbar mit glaubhaft großem Borkum zeichnen zu können.
„Kuck mal, die Reede!“, rief ein Rundflügler, „da fährt gerade ein Schiff ein.“ Er musste die Streichholzschachtel in der Tiefe meinen. Jetzt lag die Stadt Borkum unverwechselbar schräg unter ihnen. Von wegen Bohne! Der Leuchtturm überragte alles mit seiner roten Pudelmütze, aber auch die anderen Türme taten ihr Bestes: rot-weiß der Elektrische Leuchtturm, spitz die reformierte Kirche, weiter hinten der eckige Alte Leuchtturm und sogar der Wasserturm, alle reckten sich mächtig in den Himmel. Hoch über der gleißend weißen Hotelfront bog der Doppeldecker wieder ab. Waren die Punkte im Wasser etwa noch verwegene Badende? Den immer weiter werdenden Strand überquerte das Flugzeug schnell und ließ die Kaserne in sicherer Entfernung unter sich. Über der rosenüberwucherten Bunkeranlage Duala verlor es an Höhe und glitt allmählich in einem großen Bogen ab über das Watt und den Sommerdeich und endlich zurück auf den Flugplatz unten auf der Erde.
Das Nachbarmädchen, jetzt wieder auf Normalgröße angewachsen, hatte geduldig auf die Brüder gewartet. Klaas war froh, dass er unbestreitbar festen Borkumer Boden unter den Füßen hatte, und Okko wusste, was er später mal werden wollte: Herrn Westermanns Doppeldeckerpilot. Dann würde er Juist und Borkum viel besser zeichnen als einfach nur einen Strich im Wasser und eine viel zu kleine Bohne.
Okko Nr. 38
„Binsenweisheit“
Wie immer vor Ankunft der Kurgäste war Mutti schrecklich nervös. Die Sache mit dem Richtige-Hand-Geben und Mütze-ab kapierte selbst Klaas; er hatte nur aus Versehen gleich nach der Begrüßung „Auf Wiedersehen!“ gesagt, obwohl die Gäste, Vater, Mutter und ein Kind, doch zwei Wochen bleiben wollten. Die Kurgäste fanden diese etwas übereilte Verabschiedung aber nicht schlimm, sondern lachten. Eigentlich waren sie ganz nett.
„Eigentlich sind die ganz nett“, sagte Mutti denn auch beim Abendessen.
„Sagt mal, wollt ihr euch morgen nicht ein bisschen um das Kind kümmern? Ich hätte nämlich mit den Eltern etwas zu erledigen.“
Das Kind! Das Kind war ein Mädchen, eine Zumutung also! Wie so oft, wartete Mutti die Antwort ihrer Sprösslinge gar nicht erst ab. Wieder einmal hatte sie ihre Worte wohl weniger als Frage, sondern eher als Aufforderung verstanden. Und am nächsten Morgen waren Okko und Klaas in der Tat dran.
Das Mädchen war kaum älter als Klaas. Okko hatte somit zwei Kindergartenkinder im Schlepptau. Er musste sichergehen, dass ihnen bei dieser Peinlichkeit niemand von den Jungen aus seiner Klasse begegnete. So wanderten sie in das Wäldchen von der Waterdelle, weitab von den anderen Kindern, die bei diesem schönen Wetter bestimmt schon am Südstrand spielten. Kaum hatten sie das Haus in der Strandstraße verlassen, als das Mädchen auch schon fragte, wo denn nun die Insel sei. Okko verstand nicht recht.
„Das hier, wo wir stehen, das ist die Insel.“
Sie schaute ihn ungläubig, genau genommen sogar ziemlich dämlich an, fragte zwar vorerst nicht mehr, suchte aber im Weitergehen überall angestrengt weiter nach ihrer Insel. Als die Kinder vor dem Nordstrand die weite See erblickten, setzte Okko fachmännisch zu einer weiteren Erklärung an:
„Da siehste doch: Wir sind die Insel hier, und das da“, er wies mit ausladender Gebärde auf das Nordseewasser rundum, „das ist das Meer.“ ‘
„Jaja.“ Sie schien jedoch wieder nichts verstanden zu haben, die war doof, ein hoffnungsloser Fall, eben ein Badegast! In der Waterdelle angekommen, musste Klaas mal. Er stellte sich an den Trampelpfad, schob das Hosenbein seines Spielhöschens etwas hoch und pinkelte ganz normal. Okko fand das keineswegs aufsehenerregend, aber das Mädchen starrte wie gebannt auf den diskret abgewandten Klaas. Kaum hatte der alles wieder an Ort und Stelle gebracht, als das Mädchen sagte:
„Ich muss auch.“ Okko seufzte. Da hatte er sich mit diesem Kindergarten richtige Pipi- Zeitgenossen auf den Hals geladen.
„Na, dann hock dich da hin!“
„Nein, nicht hocken, ich will das so wie Klaas, im Stehen!“
Nun, sollte sie es doch versuchen! Das tat sie und machte sich natürlich prompt nass: Hose, Beine, alles. Daraufhin heulte sie los:
„Ich will das auch können, wie macht ihr das denn?“
Klaas machte es bereitwillig vor, sie schaute genau zu, kapierte den Pinkeltrick aber nicht.
„Du musst einfach deinen Pilimann dadurch tun, dann machste dich nicht nass!“, erklärte Klaas geduldig.
„Pilimann, was ist das? Ich hab' so was nicht!“
Sie hielt sich wohl für eine Missgeburt und weinte fürchterlich. Ungläubig und voller Mitleid fühlte Klaas die klitschnasse Hose des Mädchens an und fand in der Tat keinen Pilimann.
„Sie hat keinen!“, bestätigte er Okko bekümmert. Das war Okko im Prinzip nicht neu, doch zum ersten Mal war ihm der große Nachteil dieser Minderausstattung praktisch vor Augen geführt worden: In Ermangelung eines Pilimanns pinkelten Mädchen sich also nass. Das bedauernswerte Geschöpf trug sein Schicksal jetzt schon etwas gefasster, die Tränen trockneten, die Hose jedoch noch nicht. Mit etwas gespreizten Beinen marschierte sie tapfer weiter durch die Waterdelle, die ihrem Namen alle Ehre machte: Überall standen Pfützen und Lachen mit tiefschwarzem, unergründlich wirkenden Wasser. Da kreischte das Mädchen plötzlich auf. Hatte sie etwa wieder? Nein, sie war, im Gegenteil, hocherfreut und wies aufgeregt auf ein Büschelchen Binsen, das aus der Mitte eines kleinen Tümpels herausspross.
„Da ist ja eine Insel! Da ist sie ja! Endlich!“, schrie sie entzückt und streckte beide Arme nach den paar armseligen Binsen im dreckigen Tümpelchen aus. Junge, die musste noch ganz schön was lernen, die Kleine, nicht nur den Unterschied zwischen Insel und Binsen, fand Okko.